Gisela Zies

Prosa


Illustration zum Text Nachlass von Gisela Zies, Berlin

DER NACHLASS oder EINE DEUTSCHE FAMILIE

Personen:

Gerda (eine alte Frau), Lidja (ihre Mutter), Else (ihre Tante), Erich (ihr Vater), Erzähler

Textprobe:

GERDA: Vor mir steht eine kleine Truhe aus rotbraunem, mehrfach lackiertem Mahagonieholz, eine Arbeit meines Großvaters. Mit Schwalbenschwanz-Verbindung, ein Wort, das mich als Kind beeindruckte. Auf dem Deckel ein schwarzer Hebeknopf aus Ebenholz. Vorsichtig öffne ich sie, als öffnete ich eine alte Spieldose … und höre Töne … ja … aber keine, wie sie die winzigen Stifte auf einer rotierenden Metallwalze verursachen, indem sie Zungen aus Metall zum Klingen bringen, nein, es sind Töne aus Menschenkehlen. Sie steigen aus vergilbten, braunrandigen fransigen Zetteln, aus Karten und Umschlägen auf.

 

Gisela Zies, Schriftstellerin, Berlin

KANN DENN DENKEN, WER NICHT WÜNSCHT

Brief an einen Wissenschaftler.

In: GEGENWORTE, Zeitschrift für den Disput über Wissen, 1998

Textprobe:

Lieber Bruder, ich bin einem spannenden Gedanken auf der Spur, der mit dem Biologen Paul Kammerer und seinem Kröten-Experiment zu tun hat, das ihm möglicherweise das Leben kostete. Er hielt es nicht aus, an das Dogma von Mutation und Selektion zu glauben. «Leben wird, falls es scheitert, nicht auf dem Friedhof der Zuchtwahl bestattet!», sagte er. Dieser Satz hat mich tief bewegt. Du und ich sind unterm Schwert des Darwin aufgewachsen, Wörter wie Zucht, Zuchtwahl, Selektion sind uns in mehrfachem Sinn suspekt. Für mich ist Kammerer eine tragische Figur, sein Selbstmord die letzte Aussage eines Menschen, dem man zuvor nicht zugehört hat. Selbst wenn er hätte beweisen können, dass die Schwielen seiner Geburtshelferkröte wirklich Hornhaut, nicht Tinte waren, was man ihm unterstellte, hätte dies noch nicht die Vererbung erworbener Fähigkeiten bewiesen, nur, dass etwas außerhalb der Zellkerne Befindliches die Reaktivierung verlorener Eigenschaften bewirken kann. Doch dieser tabuisierten Rückwärts-Richtung war Kammerer so verzweifelt auf der Spur. Er wollte sich retten, nicht umbringen! Der schrille Hass in seinen musikalischen Ohren hat ihn zerrissen! Er war zwischen die Skylla Ost und die Charybdis West geraten. Denn egal, ob Faschisten, Kommunisten oder Demokaten, sie alle glaubten an das Machtmonopol der Gene. Er war gezwungen, an einem Wahrheitskrieg teilnehmen zu müssen, an einem Krieg zwischen den Keimbahn-Dogmatikern und den kybernetisch Denkenden, die schon damals vorsichtig den Determinismus der Gene in Frage stellten und der Meinung waren, dass der Weg vom genetischen Code zum Bau von Eiweiß bis hin zum Erscheinungsbild nicht so irrreversibel sein kann, wie angenommen! Dass zwischen den Lebewesen und der Umwelt Kommunikation stattfindet, dessen Medium nur noch nicht bekannt ist! Genau diesen Worten und Widerworten zwischen Leben und Umwelt sind jetzt endlich neuere Forschungen auf der Spur!

Anmerkung der Autorin: 2008 und 2009 gab es die ersten deutschsprachigen Bücher über das Thema Epigenetik. (z. B. Joachim Bauer: Das kooperative Gen und Peter Spork: Der Zweite Code)


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