Gisela Zies

Prosa


Illustration zum Text Niederzeit von Gisela Zies

NIEDERZEIT

Edition suhrkamp, 1981
Verständigungstexte (Anthologie)

Maria Frisé (FAZ): „Ich wollte sprechen lernen!“, bekennt die neununddreißigjährige Gisela Zies, eine der wenigen, die eine längere Erzählung anbieten. Wie viele andere beginnt sie mit der Kindheit. In dreiunddreißig Bildern beschwört sie die Vergangenheit, bis sie in die Gegenwart hineinreicht. Niederzeit gehört zu den besten Stücken dieser Anthologie, zu den Funden, die neugierig machen auf die Autorin und weitere Proben ihrer Sprache.“

Textprobe:

Die Steine fallen auf. Die Trockenheit der Steine. Sie sind weiß und blenden in der Sonne. Die Hügel sind voll von ihnen und von Gräsern und Blumen. Unten liegt ein Tal im Schatten. Du gehst aus dem Schatten zu den Steinen hoch, du gehst eine Weile, nach dieser Weile legst du dich zwischen Gräser und Steine. Es ist warm, du hast keine Kleider nötig, du bist trocken und warm. Wie Stein. Ein Mann legt sich neben dich, zwischen Gräser und Blumen, schiebt einen Arm zu dir hin, fühlst du nichts? Nein, du fühlst nichts! Du liegst in der Sonne. Der Himmel hat keine Wolken, die ihn versperren. Du kannst tief in ihn hinein sehen. Der Mann spannt dich zwischen seine Hände. «Bitte», sagt er. Du hast das andere Ende der Tiefe, du machst ihn fallen, holst ihn und alles um dich herum zu dir rein, wirst endlos, tiefer als Blau. Enger als diese Weite in dir, weiter, als es eng ist in dir, kannst du nicht werden. Du hast alles über dir eingesogen, als wäre alles Blau nur für dich am Himmel. Du schwingst aus. So fühlen Blumen, wenn sie sich mit unsichtbaren Rucken wieder zusammenfalten, den Regen gehabt haben, nach neuer Trockenheit dürsten. Als Nachmittagswolken aufziehen, gehst du ins Tal zurück.

 

Cover der Novelle Siebenjahr von Gisela Zies, Berlin

SIEBENJAHR

tende Verlag 1981
Lesungen u. a. in Wolff’s Bücherei und NDR

Frank Brunner: Gisela Zies erzählt in sieben Kapiteln - das sind die sieben Jahre im Grimmschen Märchen von der Jungfrau Maleen –, was dort ausgespart bleibt: eine Frau im Turm, allein mit ihrem Kopf, unbotmäßig.
Deutschlandfunk: Die Erfahrung existenziellen Versehrtseins geht bei Gisela Zies allen Geschichten voraus; darum benötigt sie nicht das traditionelle Novellenschema.

Textprobe:

Der Kopf rollt stirnüber die Stufen hoch und vereinnahmt ein Hallenschiff von mehrfacher Domstärke, mit Emporen, Balkonen, Einschüben. Unter der Decke findet er eine passende Nische. Freiheit als Nischenplatz! Der Kopf genießt den Raum in vollen Zügen ... die Kunststofflampen, die Tischplatten, das Marmorgestein. Dann beginnen die Fragen! Die Staatsbibliothek, ein Nest für Wissenschaftler? In dem sie eine neue Religion bebrüten? Damit ihr Flügelpaar den Staat, ce sont les servants d’état, höhenflugs empor tragen?
In dem Gebäude haben zwei Tauben den Tod gefunden: hereingekommen, nicht mehr hinausgekommen. Der Kopf versucht zu entkommen. Nestflüchter brauchen sich nicht zu sorgen, der Stadtmüll ernährt seinen Vogel. Für heute findet er das Flugloch nach draußen.


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